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Mit Adultismus leben

Leserbrief von Jans Bonte zu "40 Jahre Antipädagogik"

Zu Zeitschrift unerzogen, Nr. 3-15,
„40 Jahre Antipädagogik“

Ein interesantes Heft, 30 Seiten über Antipädagogik, die Anfänge, frühe Höhepunkte und der Ist-Zustand, sehr lehrreich, allerdings etwas abstrakt und im Allgemeinen bleibend. Nur Bertrand Stern zeigt persönlichen Bezug. Der „Freundschaft mit Kindern Förderkreis“, der mit dem persönlichen Bezug jene frühen Höhepunkte voran getrieben hatte, findet nur Erwähnung in Nebensätzen, als „Sekte“.

Erlauben Sie mir bitte diese Ergänzung um Adultismus*), damit wir das Bild von der Antipädagogik runder und bunter sehen. Dieses Heft hat mich sehr angesprochen, betrifft es doch eine wichtige Zeit in meinem Leben und meine Haltung zum Leben bis heute. Das Buch „Antipädagogik“ war auch für mich ein Meilenstein, die Begegnung damit ein Glücksfall, weg vom Wirrsinn der Antiautoritären, hin zu einer Medizin gegen die ‚pädagogische Krankheit‘ des „ich-weiß-was-für-dich-am-Besten-ist“. Doch „Erziehung lauert überall!“, dieser heutige Hinweis von Bertrand Stern lag mir schon damals im Sinn. Diesen psychodynamischen Aspekt, der weit über die klugen, mehr pädagogisch-wissenschaftlichen Artikel des Heftes hinausgeht und den wir damals in Münster als grundlegend für lebendige Antipädagogik fanden, sehe ich im Heft nicht dargestellt, obwohl es im Heft eher um Antipädagogik geht, weniger um eine Huldigung an v. Braunmühl.

*) Definition: Adultismus (engl. adultism, von the adult = der Erwachsene) bezeichnet die Diskriminierung von Kindern und Jugendlichen auf Grundlage eines bestehenden Ungleichgewichts zwischen Erwachsenen und Kindern/Jugendlichen. Adultismus fokussiert Einstellungen und Verhaltensweisen Erwachsener, die auf der Basis einer tradierten gesellschaftlichen „Rangordnung“ davon ausgehen, kompetenter zu sein als Kinder/Jugendliche und entsprechend agieren zu dürfen bzw. gar zu müssen. Der Glaube Erwachsener, sie wüssten besser als Kinder/Jugendliche, was für jene gut sei, ist ein Phänomen der Alltagsdiskriminierung: häufig stellen sich Erwachsene über Kinder und behandeln sie auf eine Weise, die dem Kinde nicht gerecht wird und aus Bequemlichkeit und Dominanz der Erwachsenen resultiert. Es ist die erste Diskriminierung, auf der alle anderen Arten von Diskriminierung aufbauen. Adultismus ist als gesellschaftliche Diskriminierungsstruktur, als strukturelle Gewalt zu verstehen, die mittels interpersoneller Beziehungen, Traditionen, Gesetze und sozialer Institutionen untermauert und kultiviert wird. – Bemerkenswert scheint mir, wer im je aktuellen Fall sonst noch dieser Klasse „Kinder“ augenscheinlich zugerechnet wird: alle "Schwachen", z.B. manche Frauen, manche Nicht-Deutsch-Sprechende und andere, die dem die aktuelle Situation beherrschenden „Erwachsenen“ als hilflos erscheinen. Dies wird schnell einem Sexismus, Rassismus o.ä. subsumiert, ist aber wohl tatsächlich noch viel dümmer: ein schlichter Rückfall in frühkindlich erlebten Adultismus. Könnte es sein, das die meisten Diskriminierungen gar nicht eigenständig zu verstehen sind, sondern als Abwandlungen von Adultismus-Erfahrungen und den dabei/dazu gespeicherten Formen internalisierter Unterdrückung bzw. internalisierter Dominanz? Die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, ob Rassismus, Homophobie oder anderes, sagt viel über das Selbstbild solcher Menschen, wenig über die Objekte ihres Hasses.

Stern betrachtet insbesondere die politische Dimension; meine, in FREUNDSCHAFT MIT KINDERN entwickelt, ist die persönliche, die Selbstbegegnung mit meiner internalisierten Unterdrückung. Was passiert, wenn ich mich einlasse auf die Gefühle aus meinen ersten Begegnungen mit den pädagogisch Denkenden und daraus, wie mit meinen Menschenrechten als Kind umgegangen wurde? Welche Mechanismen habe ich entwickelt, um Schmerz, Angst, Wut aus solchen Erfahrungen zu unterdrücken und mich meinem adultistischen*) Umfeld anzupassen, brav und erwachsen zu erscheinen?

*) vgl. z.B.   "Adultismus: die erste erlebte Diskriminierungsform? Theoretische Grundlagen und Praxisrelevanz"
von Sandra Richter  

oder   ncbi-projekte  
(Stand: 11/2015)

Dieser psychodynamische Aspekt, neben denen der Antipädagogik und Kinderrechtsbewegung, ist und war seit den Anfängen für die meisten Menschen bestimmend, im FREUNDSCHAFT MIT KINDERN – Förderkreis e.V. (FMK) Mitglied zu werden bzw. an dessen Veranstaltungen teilzunehmen.

Zum Ersten eine inhaltliche Rückblende

Ähnlich wie im Heft über Ekkehard von Braunmühl (EvB) berichtet wird, stand ich mit meiner Frau 1972 und 73 nach der Geburt unserer Kinder vor der Frage „Und jetzt, wie erziehen?“. Was wir wussten war allein „So wie wir erzogen wurden sicher nicht!“. Ich nahm beim Mittagessen Stunden an Familienkommunikation auf und war abends beim Anhören der Kassette jedes Mal neu entsetzt: ich hörte mich mit dem Originalton meines Vaters – befehlend, unbeugsam, unerreichbar, den Ton, den ich schon als Kind zum Kotzen fand. Wir gründeten die „Interessengemeinschaft Würzburger Eltern e.V.“, trafen uns 14-tägig in der Hofkellerei, um bei einem Schoppen uns auszutauschen und zu lernen über den „Erziehungsalltag“ und seine Merkwürdigkeiten; wir tauschten unsere Kinder in den Familien, so dass nur eine Mutter an der Sandkiste saß und 3 andere frei hatten.

Dabei lernten wir – und die Kinder! – vor allem, dass jede Familie eigene Regeln hat, sowie, dass die nicht, wie sonst gefühlt, ehernen Naturgesetzen gleichen, sondern verhandelbar werden können. Das „Wie erziehen?“ verblasste und wurde zu „Unter welche Regeln wollen wir uns stellen?“. Heute, 2015, können Neuro- und Kognitionswissenschaften uns das mit den Landkarten im Kopf einigermaßen erklären; damals herrschte noch weitgehend Skinnersches Blackbox-Denken – und es gab Raunen über denkwürdige, aber ferne Leute wie Carl Rogers, Fritz Perls oder Wilhelm Reich, sowie über Encounter- und T-Groups mit viel Dramatik.

Ich bin Bauingenieur und arbeitete zu der Zeit als Organisator im Arbeitsstab des Bundesverkehrsministeriums für die Neuorganisation der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes an der Umbildung dieser 20.000-köpfigen Verwaltung von vormals 12 Reichsauftragsverwaltungen der Länder in 1 bundesunmittelbare Verwaltung unter ihren eigenen Bundesaufgabengesetzen. Ich denke ingenieurmäßig, funktional. Geisteswissenschaftliches, gar Literarisches schien mir lange wie einen Pudding an die Wand nageln – Bücher werden von Menschen geschrieben, die alles über Bücher wussten, aber wenig über die Welt. Doch ich bemerkte, dass solcher Umbau in vielen dieser 20.000 Köpfe ein Gehöriges an psychischen Kräften losmacht, das sich nicht per Verwaltungsvorschrift kanalisieren lässt.

Also inhalierte ich alles, was ich an Psychologischem in Erfahrung bringen konnte. Und das wirkte zurück auf den „Erziehungsalltag“, auf die Frage „Unter welche Regeln wollen wir uns stellen?“. Darum ging es schließlich. Man muss eine Wahl treffen, sich entscheiden. Man könnte recht haben oder sich irren, aber man muss wählen, mit dem Wissen, dass Richtig oder Falsch vielleicht für immer verborgen bleiben oder dass man sich zwischen zwei falschen Dingen entschied, dass es gar nichts Richtiges gibt. Und immer, immer bleibt man damit auf sich selbst gestellt. Nur dann ist man frei, kann beim nächsten Mal neu wählen!

Dieser Lust zu wählen steht die Angst entgegen. Wenn ich aus den Gemeinschaften des Zwangs und der Kontrolle mich entlasse, was passiert dann? Solange ich Eltern oder andere Autoritäten der Meins-Ist-Besser-Als-Deins-Ideologien habe, die mir zeigen, wo es lang gehen müsse zum Richtig oder Falsch, kann ich denen die Schuld am Scheitern geben. Aber wenn ich frei bin, muss ich alles vor mir selbst verantworten. Zudem, Angst macht dumm!

1976 ging ich nach Münster. Das Inhalieren von Psychologischem war einem organisierten Interesse gewichen „wer bin ich und warum so wie jetzt?“. Mit sich selbst psychotherapeutisch zu arbeiten kann richtig Spaß machen, wenn gesunde Neugier, kein Leidensdruck dahinter steht. Ich schloss mich bald einer Community des Re-evaluation Counseling (RC) an. Später studierte ich Psychologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster und absolvierte gleichzeitig eine 3½ jährige Vegetotherapie-Ausbildung (reichianische Körper-Psychotherapie; ab 1985 mit eigener Praxis).

RC besitzt ein sehr politisches Selbstverständnis, knüpft an feministische und marxistische Theorien an und treibt entsprechend die Gründung von Gruppen zur Selbstbefreiung voran, so auch solche aus Adultismus. Im RC-Setting*) versucht man, hinter dem aktuellen Stress das ursprüngliche Erlebnis und dahinter das heute daraus resultierende nun Stress auslösende Verhaltensmuster zu erkennen. Das kollabiert an seinem spezifischen Widerspruch, wodurch die im Muster gebannten Emotionen wieder frei werden, damit die Gemütsspannung entlastet und deshalb neues Denken möglich wird. Im „ich liebe mich so wie ich bin“ fand ich einen General-Widerspruch, der die meisten Muster auflöst. Für mich ist das Ausdruck der beiden Grundkräfte des Universums, das Ausdehnende und das Zusammenziehende, Yang und Yin mit den tausend Namen, hier Liebe und Angst. Angst verlangt nach Sicherheit, z.B. durch Regeln für Rollen als Erzieher und Zögling. Liebe dehnt sich aus als Neugier, hin zum Nächsten und seiner Andersart.

*) Vgl.   rc-theory  
und z.B.   Co-Counselling als spiritueller Weg  
(Stand: 11/15)

Vor diesem Hintergrund traf Hubertus mit seinem ApIM-Papier, „Antipädagogische Initiative Münster“, den Kinderschutzbundsvorsitzenden. Das war es! Radikaler Kinderschutz! Doch wurde bald klar, das ist größer als Kinderschutz; das betrifft alle Menschen unabhängig vom Alter. Nach einer Rundfunksendung mit EvB bekamen wir einen Waschkorb voller Hörerbriefe. Wir begannen zu ahnen, dass unsere Ideenverbindungen einen Nerv treffen. Hubertus und ich konnten „im Chor denken“, so dass sich unsere je persönlichen Informations-Hintergründe zu gut formulierten Papieren verarbeiten ließen. Und Hubertus schrieb dankenswerterweise dann auch noch Bücher darüber. Die inhaltlichen Positionen von FMK oder heute auch AMICATION*) finden Sie auf der Förderkreis-Homepage**) , die unten erwähnten FMK-Grundsatz-Papiere im FMK-Heft 4, 09/1982 auf meiner Website***) .

*) von lat. amicus = Freund; s.a.   urbandictionary   „amication: the process of making a friend“
**)   AMICATION-Philosophie  
***)   FMK-Heft 4, 1982  
(Stand: 11_2015)

EvB konnte oder wollte nicht verstehen, dass die Ideen der Antipädagogik nur ein Drittel der Lebensart FMK ausmachen. Das zweite Drittel sind die Ideen der Kinderrechtsbewegung, der Beitrag von Hubertus von Schoenebeck, den im Wesentlichen er aus den USA in den deutschsprachigen Raum brachte, nachdem er eine Zeit bei Carl Rogers*) am Center for the Studies of the Person war.

*)   Carl Rogers  
(Stand: 11_2015)

Das abschließende Drittel ist die Selbstbegegnung, die Psychodynamik der Auseinandersetzung mit dem eigenen Adultismus. Diese grundlegende Unterdrückungserfahrung schon des Neugeborenen liefert den Treibstoff für alle Meins-Ist-Besser-Als-Deins-Ideologien später. Hier besonders gerieten wir mit dem Ausschließlichkeitsanspruch der Antipädagogik und dem ihrer Exponenten aneinander. Was passiert in meinem Herzen, wenn ich mich tiefer einlasse auf die alten Gefühle bei meinen ersten Begegnungen mit den pädagogisch Denkenden, die immer schon besser wussten, was für mich gut sei? Was passiert in meinem Herzen, wenn ich mich tiefer einlasse auf die Erfahrungen, wie mit meinen Menschenrechten umgegangen wurde, als ich Kind war? Welche Mechanismen, Verhaltensmuster habe ich entwickelt, um Schmerz, Angst, Wut aus solchen Begegnungen und Erfahrungen zu neutralisieren und mich meinem adultistischen Umfeld anzupassen, brav ein ordentlicher Erwachsener zu werden?

Adultismus als die erste Diskriminierung, welche wir allesamt erfahren haben, bildet die patriarchale Basis aller späteren Formen von Unterdrückung: Wir wissen wie Unterdrückung sich anfühlt, aber verdrängen das Schreckliche gut. Es macht das Übernehmen anderer Formen von Diskriminierung einfacher, weil wir bereits kennen, wie Unterdrückung funktioniert. So passen Rassismus, Sexismus, Antisemitismus, Xenophobie, Homophobie etc. in das einmal gelernte Schema von Unterdrückung, in den Wahnsinn der Normalität. Diese Auseinandersetzung geht nicht intellektuell, schon gar nicht wissenschaftlich. Das ist Selbsterfahrung, zu keinem Zeitpunkt lecker zu küssen; das kann man nicht lesen, nur selber machen. Das war mein Beitrag zur neuen Lebensart FMK.

Berichte ich hier vom „mich entlassen aus den Gemeinschaften des Zwangs und der Kontrolle“, von „ich liebe mich so wie ich bin“ und „Selbstbegegnung, der Psychodynamik der Auseinandersetzung mit dem eigenen Adultismus“ kann das ja alles durchaus missverstanden werden als hemmungsloser Individualismus, gar als Narzissmus. In ihren relationalen oder intersubjektiven Ansätzen spürt Psychologie der Vernetzung von Seele und Umwelt nach und nimmt dabei die Vermittlungen zwischen individueller Psyche und sozialer Realität in den Blick. Dabei ist entscheidend, wie die handelnden Personen die Welt wahrnehmen und welche sozialen und normativen Kontexte diese Wahrnehmung prägen. Offenbar genügt eine kleine mentale Koordinatenverschiebung, um sich selbst oder einer Gruppe von Menschen einen anderen menschlichen Status zuzuerkennen – warum sollte das nicht für „Kinder“ gelingen.

Wenn unserer Lebensart FMK Individualismus, Egoismus oder Narzissmus vorgeworfen wurde, so verkennt das eine wesentliche unserer Grundannahmen: die Sozialität des Menschen. Natürlicherweise bin ich, als Menschentier, ein Rudelwesen. Erst im Wir erfülle ich mich zur ganzen Fülle der Möglichkeiten als Mensch. Doch Menschenwürde und Herrschaft sind Gegensätze. So wurde diese Gabe von zahllosen Philosophien, Religionen, politischen Theorien denaturiert und als Wir-Syndrom zum Werkzeug von Herrschaft uminterpretiert. Als Therapie vom Wir-Syndrom hat mir und den FMK-Freunden am besten geholfen, zuerst das Eigene zu entdecken, eigene Erwartungen, Absichten, Vorurteile zu prüfen, nach persönlichen Wegen aus unseren sozialen Phantasiesystemen zu suchen. In diesen verschiedenen Wirs bin ich das einzige Subjekt, das näher kennen zu lernen mir möglich ist. Niemand anderem als mir kann ich hinter die Stirn oder ins Herz schauen. Das Ziel der Lebensart FMK ist nicht Individualismus sondern eine Gemeinschaft der Freien.

Deshalb, wo wir in unseren Texten von Ich oder Selbst schreiben, immer steht als gedankliche Fußnote dabei: „Meine volle Menschlichkeit realisiert sich erst in der menschlichen Gemeinschaft, im Wir — ohne Herrschaft“. Im Wir finden neben den Dingen auch menschliche Probleme Berücksichtigung, weil beides nicht voneinander zu trennen ist. Außerdem sei nicht vergessen, dass persönliches Erleben nicht auf einen Einzelnen zurückgehen kann, sondern stets von Vielen abhängig ist, denen man in dieser Zeit begegnet und die, während tätig Andere sind, allein durch ihre Anwesenheit etwas Besonderes bewirken.

Wir lieben unsere Kinder. Und natürlich wollen wir sie – und alle Kinder – sicher in der Welt wissen. Kinder stehen auf der Spitze der Generationenpyramide, auf den Schultern ihrer Eltern. Dabei weist mich mein Bewusstsein meiner eigenen Selbstverantwortung, nämlich dass Menschen gezeugt und geboren werden als für sich selbst Verantwortliche, auf dessen zweite Seite: Nicht allein sagt das Kind den Eltern „Nur ich bin für mich verantwortlich!“ sondern in der Konsequenz sagen die Eltern dem Kind auch „wirklich verantwortlich kann ich nur für mich sein, nicht für Dich“. Ich, dieser Jans, Vater, kann nicht reingucken in dich, mein Kind, dessen Kopf, dessen Herz, was ihm das Beste sei. So wie die Vergangenheit, die uns prägte, unabänderlich vorbei ist, so geht jeder einzelne Mensch unabänderlich in eigener Verantwortung seinen Weg durch die Vielfalt dieser Welt.

Das kann für liebende Eltern sehr schwer sein – sie müssen eine Wahl treffen, sich entscheiden. Und wie auch immer sie sich entscheiden, ihr lebendiger Organismus hält sich stets in einem Optimum zwischen seinen äußeren und seinen inneren Bedingungen (Opportunitätsprinzip), so wie er diese wahrnimmt und bewertet: „Jeder tut zu jederzeit sein Bestes für sich – unter Berücksichtigung der Informationen, die er hat, und der Regeln, die er zu deren Auswertung kennt. Und er verdient nicht, deswegen von irgendwem zurückgestoßen oder beschuldigt zu werden. Von niemand, auch nicht von sich selbst!“ Das bedeutet zugleich, dass mich nicht nur mein Kind sondern oft genug jedes Kind mit seinen ja noch ganz anderen Informationen und Regeln ununterbrochen erinnern kann daran, wie ich als Kind diese Welt entdeckte. – Und damit bloßlegt, sehr schmerzhaft möglicherweise, wie ich mit dieser Entdeckung umgegangen bin.

So stehe ich zu meinen Entscheidungen für mein Kind, denn ich will es sicher in der Welt wissen. Ich habe durch mehr Lebenszeit einen Informationsvorsprung gegenüber meinem Kind. Den lebe ich vor, ob ich will oder nicht, zumindest als Rahmen. Damit sind auch manche Regeln vorgegeben. Selbst im Tierreich werden Jungtiere in gewissem Umfang von den Eltern reguliert; teilweise ist das überlebenswichtig – für die Kinder offensichtlich sowie, verborgen, für die Eltern, die in ihren Kindern ja weiterleben. Meine Kinder dürfen einen Anspruch haben auf meine Autorität, auf starke Schultern. Meine schnelle Prüfung auf autoritär oder Autorität ist, mag ich, wenn so mit mir gesprochen wird, oder, ich als „Erwachsener“ so behandelt werde.

Die alte Lösung war, Kinder müssen erzogen werden, angepasst werden an die Weltsicht des Erziehers. Doch diese Anpassungsleistung ist bereits eingebaut in jedem Hirn, besonders dem Kinderhirn zum Überleben bei seinen Zentralsozialpartnern. Die Spiegelneuronen des Kindes und des Vaters plaudern dauernd miteinander. Also gebe ich, dieser Jans, Vater, sowieso ständig alles preis von mir. Wir wissen voneinander. Solange ich mich nicht selbst liebe, kann ich niemand anders lieben, höchstens nett sein. Nettigkeit ist die kleine Schwester der Lüge! Wie herauskommen aus dieser Falle Erziehungslüge?

37 Jahre FMK deuten darauf hin, dass wir mit diesem Dreiklang aus Ideen der Antipädagogik, der Kinderrechtsbewegung und der daraus resultierenden Psychodynamik in Selbstbegegnung konstruktive Wege gefunden haben, das zu vermitteln. Es lässt aber auch ahnen, dass FMK weniger eine starke Institution zur Missionierung sein will als vielmehr nur ein ‚Förderkreis‘, eine Hilfe zur Selbsthilfe. Das macht verständlich, dass die meisten der vielen zigtausende Menschen, die an Veranstaltungen des FREUNDSCHAFT MIT KINDERN – Förderkreis e.V. teilnahmen, dabei gelegentlich auch dessen Mitglied wurden, nach einiger Zeit sich stark genug fühlen weiterzuziehen. Doch „Erziehung lauert überall!“, dieser Hinweis von Bertrand Stern ist weiter gültig und lässt uns mit dem kleinen Schiffchen FMK gelassen durch die Wellen segeln – wer weiß, zu welchen Ufern.

Zum Zweiten eine historische Rückblende

Der FREUNDSCHAFT MIT KINDERN – Förderkreis e.V. wurde 1978 gegründet. Die Gründungsmitglieder waren Mitglieder des Kinderschutzbundes Münster. Dort gab es damals eine Arbeitsgruppe „Freundschaft mit Kindern“, der Name eine Kapitelüberschrift in „Antipädagogik“. Die Vorstellungen und Konzepte der Arbeitsgruppe gingen weit über die traditionellen Auffassungen von Kinderschutzarbeit hinaus, so dass wir die Gründung unserer eigenen bundesweit arbeitenden Organisation als notwendig ansahen.

Ich wurde 1976 Gründungsvorsitzender des „Deutscher Kinderschutzbund, Ortsverband Münster e.V.“ und wurde dann 1978 Gründungsvorsitzender des Förderkreises, wechselte mich mit Hubertus im Vorsitz ab und war 1981 bis 1986 wieder 1. Vorsitzender des Förderkreises; Hubertus ist seitdem Schriftführer und Öffentlichkeitsreferent des Förderkreises. Sie können sich bei allen weiteren Fragen gern an mich wenden.

Der von KLEMM, S.9 im Heft, „Antipädagogik – Erziehung als Mythos“, erst für 1995 vermutete „Bruch zwischen den Anhängern von v. Braunmühl und von v. Schoenebeck“ geschah schon 1981. Gemäß der Protokolle der Ordentlichen Mitgliederversammlung des Förderkreises am 22. März 1981 in Essen und der Außerordentlichen Mitgliederversammlung (aoMV) am 12.6.81 in Krefeld wurde der Vertreter der Antipädagogen-Fraktion aus dem Vorstand abgewählt. Der Förderkreis grenzte sich ausdrücklich ab von Nur-Kinderrechtlern, Nur-Antipädagogen, Nur-Selbstbegegnern. „Kinderbefreiungskampf ist nicht vereinbar mit der Lebensart FREUNDSCHAFT MIT KINDERN, wie sie satzungsgemäß dargestellt ist im gleichnamigen Grundsatzpapier“*) .

*) Siehe in   1. FREUNDSCHAFT MIT KINDERN - Grundsatzpapier (1979)  
sowie in   9. Unterscheidungen, S. 47 ff  
(Stand: 11_2015)

Weiter aus dem Protokoll der aoMV u.a. „Das Angebot des Förderkreises in seinem Vereinszweck (§2 Satzung) ist nicht vereinbar mit dem Ausschließlichkeitsanspruch der […] genannten Bewegungen und dem ihrer Exponenten. […] Das Kindermanifest, von Erwachsenen verfasst, setzt nicht Kindern die Ziele für ihren Befreiungskampf. Im Kindermanifest geben Erwachsene anderen Erwachsenen einige Markierungen für den Weg aus adultistischer Unterdrückung gegen Kinder, zum Beispiel, damit wir die Erfahrung als adultistisch Unterdrückte und die Erfahrung als adultistisch Unterdrückende in unseren Herzen überwinden können.“ […] „Aus dem FREUNDSCHAFT MIT KINDERN – Förderkreis e.V. wird ausgeschlossen, wer FREUNDSCHAFT MIT KINDERN als zugehörig, verbunden, verwandt o.ä. ausgibt mit Pädophilie, Kinderbefreiungskampf, Nur-Kinderrechtsbewegung, Nur-Antipädagogik, Nur-Selbstbegegnung, wie dies in den Infopapieren […] entsprechend abgrenzend dargestellt ist. […] Der Antrag […] auf Unterstützung des Kinderbefreiungskampfes wird einstimmig abgelehnt. Wo sich ein Erwachsener, gebeten oder ungebeten, in die Sache junger Menschen einmischt/einlässt, da bringt er bewusst oder unbewusst seine Muster für Denk- und Handlungsweisen mit, die von Kind an durchtränkt sind mit Erfahrungen aus adultistischer Unterdrückung. Selbst wenn ein Erwachsener diese Erfahrung in seinem Herzen überwunden hat, so bleibt er wegen der Rollenerwartung der jungen Menschen und der der Miterwachsenen in der Klasse der Erwachsenen und damit Klassenfeind junger Menschen. Diese Logik kann jedoch keinen Menschen hindern, wie stets sein Bestes zu tun.“

Danach beschränkte sich der Kontakt zwischen Förderkreis und EvB auf öffentliche Schmähungen durch ihn und seine Anhänger; da war nur noch Geschrei – der lauteste Ausdruck von Sprachlosigkeit. EvBs Nachhutgefechte dauerten wohl bis Mitte der 90er – er konnte schwer loslassen. Als besonders lästig habe ich Mike Weimann in Erinnerung; bezeichnenderweise gibt KLEMM <www.miwe.org> als Quelle für seine Vermutungen. Dort auch entstand dieses Stereotyp »v. Schoenebecks Verein eine ‚Privatsekte‘ und ihn gleichsam als ‚Guru’«. Dieser Stempel*) geistert seitdem hartnäckig um die antipädagogische Rezeption von FMK. Zu jener Zeit war EvB ein Kämpfer. Er lief zu hoher Form auf, wenn er um sich schlagen konnte, vernichten wollte. Dann sammelten sich um ihn Begeisterte.

*) Tatsächlich handelt es sich hierbei wohl um ein weiteres Mißverständnis der Antipädagogik-Fraktion. Bei Privatsekte, Guru geht es gegen die psychodynamischen Aspekte von FMK. Die wurden mit HvS in Verbindung gebracht, da er als Öffentlichkeitsreferent des FMK-Förderkreises die Außendarstellung besorgt. HvS selbst war und blieb m.E. bis heute wohl eher der Kinderrechtler.

Auch wir in Münster waren zu Anfang begeistert – doch, das musste ihn verstören, nicht haben wir „seine Auffassungen übernommen, wenn auch nach Ansicht von Braunmühls in sehr missverständlicher bis verdrehter Weise“, sondern haben sie vom Kopf auf die Füße gestellt, aus der hohen Sicht eines Publizisten mit pädagogisch-wissenschaftlichem Anspruch in ein Auge-in-Auge von Menschen zu Menschen, insbesondere zu jungen Menschen, banal aber voller Wunder.

Bei einer Veranstaltung 1977 des Montagsclub in Bonn, 120 Teilnehmer, stellten wir drei unsere Ideen vor. Die Teilnehmer waren begeistert, wollten weitermachen. 50 sammelten sich um EvB; sie trafen sich dreimal. 20 sammelten sich um HvS; sie trafen sich sieben Mal. Fünf oder sechs kamen zu mir; die wurden die Keimzelle einer großen Bonner FMK-Gemeinschaft, ja, zwei von ihnen nahmen noch teil am FMK-Sommercamp 2015.

Nun, den Förderkreis gibt es bis heute, seine 10-tägigen Familien-Sommercamps sind gut besucht. Sein Archiv umfasst zahlreiche Diplom-, Magister-, Bachelor-, Master- und Doktor-Arbeiten von den Anfängen bis heute. Hubertus, der den Zauber von Beziehung statt Erziehung fühlbar machen kann, reist nach wie vor durch Deutschland und einige Nachbarländer, eingeladen von Universitäten, Volkshochschulen und privaten Gruppen. Denn FREUNDSCHAFT MIT KINDERN ist immer noch eine neue Form der Beziehung zwischen Erwachsenen und Kindern. Aus dem Info-Papier 4/81: „Dabei geht es um drei verschiedene Arten von Kindern: Zum einen um das Kind in einem selbst (die Kindheitsdimensionen, die ein Leben lang in einem vorhanden sind, z.B. das tiefe Wissen um Einmaligkeit, Souveränität, Selbstbestimmung, Schönheit usw.). Zum anderen um das Kind in den anderen Erwachsenen. Zum Dritten um die jetzt real lebenden Kinder. Nur über den Weg der Friedensstiftung in einem selbst – dem Frieden und der Freundschaft mit dem Kind in einem selbst – gelingt die FREUNDSCHAFT-MIT-KINDERN-Beziehung zu den anderen. Es gibt viele Möglichkeiten, diesen inneren Frieden zu finden. Der FREUNDSCHAFT MIT KINDERN – Förderkreis e.V. hat den sanften Weg einer eigenen gruppendynamischen Form des Lernens erkundet.“

Zum Dritten: Was ist heute?

Zur inhaltlichen und zur historischen Rückblende gehört sicher auch, dass der amicative Blick auf die Welt für manche Menschen so irritierend sein kann, dass diese sich zurückziehen, sich per Spott und Hohn abgrenzen mögen oder gar mit Wut reagieren. Einer klassischen These zufolge wird, was verdrängt wurde, einem unheimlich. Die Auseinandersetzung mit Adultismus, erst recht dem eigenen, ist Kärrnerarbeit. Dieser Adultismus-Karren steckt bis über die Achsen im Dreck! Das muss man sich ja nicht antun, wo ein intellektuelles Darüber-Hinweg-Reden sogar Spaß machen könnte – wie im unerzogen-Heft.

„Jeder tut zu jederzeit sein Bestes für sich — …“

Das möge nicht als Herabsetzung intellektueller Herangehensweise verstanden werden. Vielleicht können wir heute nicht mehr so denken und fühlen wie damals? Eben las ich in der taz den Artikel „Kleines Universum der Anarchie“ anlässlich der Neuauflage der CD-Box Ton Steine Scherben „Das Gesamtwerk“. Michael Sontheimer lässt die Texte und die Zeit Revue passieren. Er schreibt »Wir – Spontis und Anarchisten – liefen hinter einem Lautsprecherwagen her, aus dem ein Song von „Ton Steine Scherben“ hämmerte. „Reißen wir die Mauern ein, die uns trennen. Kommt zusammen, Leute, lernt euch kennen. Du bist nicht besser als der neben dir. Keiner hat das Recht, Menschen zu regier’n.“ Der Refrain: „In jeder Stadt und in jedem Land, heißt die Parole von unserem Kampf, heißt die Parole von unserem Kampf, Keine Macht, für niemand!“ Es war die Hymne der Anarchisten und Spontis.« Und es umschreibt auch FMK-Ideen. Nur, ich erinnere mich nicht an diese „Ton Steine Scherben“-Songs. Ich war sicher weder Anarchist noch Sponti, ich war Beamter*) in einer Behörde, zuständig für technisches Ordnungsrecht.

*) Das wurde ich nicht wegen einer künftigen Pension, sondern wegen BBG §§ 63 und 60 "... Beamte tragen für die Rechtmäßigkeit ihrer dienstlichen Handlungen die volle persönliche Verantwortung ..." und "... Sie haben ihre Aufgaben unparteiisch und gerecht zu erfüllen und bei ihrer Amtsführung auf das Wohl der Allgemeinheit Bedacht zu nehmen ...". Das gefiel mir, nach meinen Jahren in der Bauindustrie.

Aber daran erinnere ich mich: Pink Floyd’s rock opera von 1979, The Wall, Nummer-eins-Hit, darunter in Deutschland Februar 1980, gab ein Gastspiel in Düsseldorf und wir verkauften vor der Halle Auto-Aufkleber mit „We don’t need no education – FREUNDSCHAFT MIT KINDERN“ und „Erziehung nein danke – FREUNDSCHAFT MIT KINDERN“. Das scheint mir heute kein Widerspruch.

„Warum wir und nicht sie?“ ist die Kernfrage, der Sarah Blaffer Hrdy, die renommierte Soziobiologin und Anthropologin, in ihrem Buch „Mütter und andere“ nachgeht. „Wenn sich Empathie und wechselseitiges Verstehen nur unter bestimmten Aufzuchtbedingungen entwickeln und wenn ein immer größerer Prozentsatz der Individuen unserer Art diese Bedingungen nicht antrifft, sich aber trotzdem fortpflanzt“, gehen unsere sozialen Fähigkeiten wieder verloren. Denn die Evolution geht weiter, und soziale Fähigkeiten, die erlernt und nicht vererbt werden, bleiben auf der Strecke, wenn immer mehr Kinder ohne verlässliche Zuwendung aufwachsen. Blaffer Hrdy bezieht das nicht nur auf die Kleinfamilie, sondern generell auf liebevolle Betreuungs- und Bezugspersonen etwa in Kitas. Wenn also die „Kümmerer“ aussterben, dürften unsere Nachfahren in einigen tausend Jahren „genauso konkurrenzorientiert und machiavellistisch sein, wie es Schimpansen heute sind. … Doch es ist ungewiss, ob sie noch immer jene Attribute besitzen werden, die wir heute als typisch für unsere Spezies erachten – nämlich Empathie und das Bestreben, die Emotionen anderer zu verstehen.“ Damit es nicht so weit kommt, müssen wir heute gegensteuern.

Gabriele Lorenz am 9. Juni 2010 in KN, Nr. 131 zu Sarah Blaffer Hrdy, Mütter und andere - Wie die Evolution uns zu sozialen Wesen gemacht hat, Berlin Verlag 2010

„Jeder Widerstandsgeist, der kein Risiko in sich birgt und keine Wirkung hat, ist nichts als geltungssüchtig“ *). Hatte mein Aufwand um Adultismus vor 35 Jahren Risiko oder Wirkung? Vielleicht sollte ich ’nach außen / nach innen‘ unterscheiden.

*)Stefan Zweig, zitiert in ZEITonline am 1.6.16, zu "Maria Schraders Film 'Vor der Morgenröte' " von Andreas Busche

Risiko nach außen? – da habe ich nichts von bemerken wollen; gut, der Beamte Bonte hatte einen Ruf als Anarchist und wurde 20 Jahre nicht befördert. Wirkung nach außen? – wenn ein Waschkorb voller Hörerbriefe oder übervolle Wochenend-Workshops über Jahre ein Anzeichen wären, dann gab es Wirkungen. Wenn ich an einige Menschen denke, die ich länger begleiten durfte und die dabei deutlich ihre Kindheitsdimensionen, die ein Leben lang in einem vorhanden sind, z.B. das tiefe Wissen um Einmaligkeit, Souveränität, Selbstbestimmung, Schönheit wiederfanden, ja, da hat mein Aufwand um Adultismus Wirkung gezeigt, die mich freut für mein Leben.Und was ist mit den vielen, von denen ich nie wieder was gehört habe? Hatte ich sie nicht erreicht? Hatten sie sich, erschrocken von den Aussichten, nur tiefer in ihren Charakterpanzer zurückgezogen?

Risiko nach innen? – Die Familienkommunikation aufzunehmen und abends beim Anhören der Kassette jedes Mal neu entsetzt zu sein, das hätte auch sehr selbstbestrafend wirken können – für mich war es eher Herausforderung. Die adultistischen Fesseln aus internalisierter Unterdrückung immer mehr abzuwerfen, bewirkte für mich, immer weniger zugänglich zu sein für die Standards gesellschaftlicher Konventionen – mit einigen Konsequenzen, die ich hier gerne für mich behalte werde.

Wirkung nach innen? – Diese vorerwähnten Risiken nach innen waren und sind ja verbunden mit vielen Wirkungen; zwei habe ich eben genannt. Mein Aufwand um Adultismus hat jedenfalls mir meine Welt bunter und lebenswerter gemacht. Vielleicht läßt sich das auch daran erkennen, dass ich bis heute nicht aufgehört habe, für mich dieses FREUNDSCHAFT MIT KINDERN weiter zu entfalten.

Heute würde ich   unsere Ideen  *) so formulieren:

*) http://www.amication.de/grundlagen_amicativer_lebensfuehrung.html Stand: 11_15

Die Grundlagen amicativer Lebensweise

Der persönliche Rahmen

1. Selbstliebe

„Ich liebe mich so wie ich bin“. Diese konstruktive Weltsicht begründet sich aus dem existenziellen Lebenswillen und ist verkörpert in jeder einzelnen Zelle, weil sie biologische Grundlage alles Lebendigen ist. Selbstliebe ist frei von Egoismus und ist umhüllt von Nächstenliebe. Bei vielen Menschen ist die Selbstliebe dick überkrustet von Selbsthass aus adultistischem Erziehungsdruck von Säugling an („du musst anders sein – klüger, schneller, etc. werden!“). Dennoch kann die Selbstliebe durch nichts und von niemand infrage gestellt werden. Wird diese grundlegende Selbstliebe bewusst, verbreitet sie sich als Nächstenliebe hin zu allen Wesen. Je tiefer das Bewusstwerden der eigenen Selbstliebe wieder erwacht, desto höher wird die Achtung für die Selbstliebe aller Wesen.

2. Vollwertigkeit

Auf der Basis der Selbstliebe ruht das Bewusstsein der eigenen Vollwertigkeit. Jeder Mensch ist von Anfang an ein vollwertiger Mensch. Niemand muss an sich arbeiten, sich verbessern oder erzogen werden, um ein »richtiger«, »besserer«, »gesünderer« oder »glücklicherer« Mensch zu werden, denn ein jeder ist zu jedem Zeitpunkt seines Lebens dieser einzigartige vollwertige Mensch. Natürlich wird man sich jederzeit verändern, denn Leben ist Rhythmus, ist ständige Veränderung: dies geschieht stets auf dem 100-Prozent-Plateau der Vollwertigkeit und Selbstliebe. Ich bin der Mittelpunkt des Universums, das ich zu jedem Moment durch mein Wahrnehmen, Denken und Handeln in meinem Bewusstsein neu erschaffe, und ich weiß mich als Nebenpunkt oder nichtexistent in all den anderen Universen. Je tiefer das Bewusstwerden der eigenen Vollwertigkeit und Selbstliebe wieder erwacht, desto höher wird die Achtung für die Vollwertigkeit und Selbstliebe aller Wesen.

3. Selbstverantwortung

Auf der Basis der Selbstliebe und Vollwertigkeit ruht das Bewusstsein der eigenen Selbstverantwortung. „Nur ich bin für mich verantwortlich!“ Menschen werden als für sich selbst Verantwortliche gezeugt und geboren. Das eigene Beste können daher allein sie selbst wahrnehmen. Dies ist keine Anlage, die erst im Laufe des Älterwerdens entfaltet werden kann. Das ist eine Qualität des Lebendigen, die von Anfang an uneinschränkbar wirkt. Die Selbstverantwortung geht niemals verloren, was im Leben auch geschehen mag. Sie kann nur vor dem eigenen Verstand verborgen werden, solange der adultistische Selbsthass noch zu groß ist und die Opferhaltung die größere Rendite verspricht. Offen gelebte Selbstverantwortung beginnt mit der Entscheidung zur Bereitschaft, Ursache in den Angelegenheiten meines Lebens zu sein. Letztendlich ist es ein Weltbild, von dem aus ich wähle, mein Leben zu leben. Selbstverantwortung schafft nicht Lob, Verdienst, Bürde, Schande oder Schuld. Bei Selbstverantwortung gibt es keine Bewertung von gut oder schlecht, richtig oder falsch. Da ist einfach, was ist, und das ist meine Haltung, jetzt. Bewusst selbstverantwortlich zu sein beginnt mit der Bereitschaft, mit einer Situation umzugehen von dem Blickwinkel im Leben aus, dass ich der Verursacher davon bin, was ich tue, was ich habe und wer ich bin. Das ist nicht die Wahrheit. Es ist ein Ort, an dem ich stehen kann. Ich bin von mir autorisiert zum Autor des Drehbuchs meines Lebens; ich bin dessen Regisseur und dessen Hauptdarsteller und dessen wichtigstes Publikum! Je tiefer das Bewusstwerden der eigenen Selbstverantwortung, Vollwertigkeit und Selbstliebe wieder erwacht, desto höher wird die Achtung für die Selbstverantwortung, Vollwertigkeit und Selbstliebe aller Wesen.

4. Souveränität

Auf der Basis der Selbstliebe, Vollwertigkeit und Selbstverantwortung ruht das Bewusstsein der eigenen Souveränität. Niemand muss etwas tun, dulden oder unterlassen, was er nicht tun, dulden oder unterlassen will. Niemand unterliegt irgendeiner Pflicht, der er nicht selbst zustimmt, und er hat kein Recht gegen Andere, dem jene nicht zustimmen. Für keine Norm*) kann eine Berechtigung gefunden werden, dass sie über den Einzelnen gestellt werden könnte. Womit auch immer jemand konfrontiert wird: ein jeder entscheidet in eigener Souveränität selbst, wie er damit umgehen will. Die aus der Souveränität kommende Freiwilligkeit eröffnet den Zugang zu Kongruenz, Authentizität und Empathie. Ich bin der Schöpfer meines Universums; ich bin das Geschöpf meiner Schöpfung, dem ich auch die dunklen Seiten zugestehe wie z.B. Schmerz, Angst, Wut oder Bedürftigkeit, Ratlosigkeit, Begrenztheit, Fehlbarkeit. Je tiefer das Bewusstwerden der eigenen Souveränität, Selbstverantwortung, Vollwertigkeit und Selbstliebe wieder erwacht, desto höher wird die Achtung für die Souveränität, Selbstverantwortung, Vollwertigkeit und Selbstliebe aller Wesen.

*) Der Inhalt des Rechts und seiner Rechtsnormen beruht auf der willensmäßigen und werte-verwirklichenden Gestaltung der gesellschaftlichen Ordnung, die sich an gesellschaftlichen Werten orientiert, die auch moralischer oder ethischer Natur sein können. Die Rechtsordnung ist eine Zwangsordnung; sie knüpft an unerwünschtes Verhalten einen organisierten Zwangsakt. Indem ich meine Rechte als Staatsbürger auf einem Staatsgebiet annehme, akzeptiere ich meine Pflichten in dessen Rechtsordnung. AMICATION betrachtet die Welt moralischer oder ethischer Normen, nicht die der Rechtsnormen.

5. Gleichwertigkeit

Auf der Basis der Selbstliebe, Vollwertigkeit, Selbstverantwortung und Souveränität ruht das Bewusstsein der eigenen Gleichwertigkeit. Nichts und niemand steht über oder unter einem anderen: Es gilt das Paradigma der Gleichwertigkeit aller Phänomene. Statt des vertikalen Denkbildes unserer patriarchalen Geschichte mit seiner Oben-Unten-Struktur gilt das horizontale Bild der großen Ebene, auf der jedes dingliche und nichtdingliche Gebilde gleichwertig seinen Platz hat. Jeder einzelne Mensch geht in eigener Verantwortung seinen Weg durch diese Vielfalt. Wie immer er sich entscheidet und nach welchen Kriterien auch immer er seine Wahl trifft, niemals wird das, für das er sich nicht entschieden hat, deshalb als minderwertig eingestuft. Ein jeder verbindet die postmoderne Gleichwertigkeit mit persönlicher Verantwortung zu seiner eigenen, konstruktiven und subjektiven Ethik. Je tiefer das Bewusstwerden der eigenen Gleichwertigkeit, Souveränität, Selbstverantwortung, Vollwertigkeit und Selbstliebe wieder erwacht, desto höher wird die Achtung für die Gleichwertigkeit, Souveränität, Selbstverantwortung, Vollwertigkeit und Selbstliebe aller Wesen.

6. Subjektivität

Auf der Basis der Selbstliebe, Vollwertigkeit, Selbstverantwortung, Souveränität und Gleichwertigkeit ruht das Bewusstsein der eigenen Subjektivität. „Jeder tut zu jederzeit sein Bestes für sich – unter Berücksichtigung der Informationen, die er hat, und der Regeln, die er zu deren Auswertung kennt. Und er verdient nicht, deswegen von irgendwem zurückgestoßen oder beschuldigt zu werden. Von niemand, auch nicht von sich selbst!“ („Der brave Mann denkt an sich – selbst zuletzt“). Menschen interpretieren die Welt – das kann jeder nur auf seine subjektive Weise. Es gibt nur Meinung, nicht Deinung. Objektive Urteile, von Menschen losgelöste Wahrheiten existieren nicht. Auch naturwissenschaftliche Erkenntnisse sind letztlich Erkenntnisse konkreter Menschen mit ihrer subjektiven Weltsicht und unterliegen dem Wandel der Geschichte. Das bedeutet, dass niemand zu Recht einem anderen seine eigene Sicht der Dinge verbindlich machen kann (»Sieh das ein, ich habe recht«), sondern dass jeder nur seine eigene, subjektive Sicht finden kann und kundtut. Je tiefer das Bewusstwerden der eigenen Subjektivität, Gleichwertigkeit, Souveränität, Selbstverantwortung, Vollwertigkeit und Selbstliebe wieder erwacht, desto höher wird die Achtung für die Subjektivität, Gleichwertigkeit, Souveränität, Selbstverantwortung, Vollwertigkeit und Selbstliebe aller Wesen.

Der soziale Rahmen

7. Sozialität

Menschen sind sozial konstruktiv. Sie werden geboren mit dieser empathischen Potenz, die erwächst aus der Vollwertigkeit und Selbstliebe aller Wesen. Menschen halten nach dem Anderen Ausschau, um von ihm Wichtiges für sich selbst zu bekommen: dessen Gewogenheit, Sympathie, Liebe. Es geht um das biologische Bedürfnis nach Liebe, Anerkennung, Wertschätzung. Im eigenen Interesse kümmert sich der eine um den anderen (»sozialer Automatismus«); er sorgt dafür, dass es diesem gut geht, denn dies hat die Zuwendung des anderen zur Folge. Sozialität ist die Auswirkung der Selbstliebe. Niemandem muss Sozialität, Nächstenliebe, Kümmern um andere erst beigebracht werden: Menschen können das von Geburt an und sie praktizieren es um des eigenen Nutzens willen (es sei denn, sie werden in der äußeren Entfaltung ihrer Selbstliebe stark gestört).

8. Achtung der Inneren Welt

Selbstverantwortung und Subjektivität bewirken bei jedem einzelnen Menschen seine eigenständige und souveräne Innere Welt. »Innere Welten« gibt es als universelles Prinzip der inneren Struktur überall: in Atomen, Steinen, Pflanzen, Tieren, Menschen. Vor der Inneren Welt jedes Menschen besteht grundlegende Achtung. In die Innere Welt wird niemals eingegriffen in dem Sinne, dass dort etwas sein müsse, was der andere dort aber nicht haben will (»Sieh das ein!«)

9. Selbstbehauptung in der Äußeren Welt

Die Achtung vor der Inneren Welt bedeutet nicht das Erduldenmüssen von Handlungen in der Äußeren Welt. Auf der Handlungsebene verhält sich ein jeder so, wie dies seiner Verantwortung für sich selbst entspricht. Der lebendige Organismus hält sich stets in einem Optimum zwischen seinen äußeren und seinen inneren Bedingungen (Opportunitätsprinzip), so wie er diese wahrnimmt und bewertet. Dieses Verhalten in der Äußeren Welt kann den Vorstellungen des anderen entsprechen oder entgegengesetzt sein. Bei Konfrontation oder unüberbrückbarem Gegensatz steht es jedem zu, zur Sicherung der eigenen Identität so wehrhaft zu sein, wie man es kann und will. Doch bei aller Selbstbehauptung in der Äußeren Welt – dabei geht die Achtung vor der Inneren Welt eines jeden Menschen nicht verloren.

10. Empathie

Die Freiwilligkeit und die Achtung vor der Inneren Welt ermöglichen es, dass sich das Einfühlungsvermögen des Menschen so entfalten kann, wie das ein jeder wirklich will – und nicht so, wie es für irgendwen irgendwie sein sollte. Das empathische Potential des Menschen wird freigesetzt. Antworten auf die Fragen »Wer bin ich?« und »Wer bist Du?« werden im Aufspüren der real existierenden Personen, die ein jeder selbst und die der andere ist, auf einer tiefen emotionalen Ebene gefunden. Dies gilt stets jedoch nur soweit, wie ein jeder das angesichts der Umstände für sich realisieren will (es gibt keine Verpflichtung zur Empathie). Ein besonderer Bereich, den die Empathie erschließt, ist der Umgang mit Konflikten: die »empathische Konfliktlösung« tritt an die Stelle destruktiver Kämpfe.

11. Fehlerlosigkeit

Niemand kann einen wirklichen Fehler machen – denn es gibt keinen objektiven, über dem Einzelnen stehenden Maßstab. Wer könnte der Oberbestimmer sein? Verstöße gegen Vereinbarungen sind keine Fehler in einem objektiven Sinn, sondern für den Handelnden zum Zeitpunkt des Handelns sinnvolle Entscheidungen für Abweichungen vom vereinbarten Weg. Man kann sich meistens korrigieren*); dabei wird der nun zu korrigierende Schritt als sinnvolles Tun in der Vergangenheit geachtet. Jedoch hat jede Abweichung auch Konsequenzen, in meinem und in den beteiligten Universen

*) auch der Chirurg, der in Gedanken an den nächsten Fall ein gesundes Bein statt des entzündeten Blinddarms abschneidet, hatte entschieden – leider hier unkorrigierbar.

12. Erziehungsfreiheit

Die Achtung vor der Inneren Welt, das Wissen um die Subjektivität der Erkenntnisse und die Anerkennung der Gleichwertigkeit aller Phänomene haben das Ende des kulturellen Missionsgedankens zur Folge. An die Stelle der Mission tritt Freundschaft: Freundschaft mit dem Kind in meiner Inneren Welt, mit dem Kind in Deiner Inneren Welt, mit den realen jungen Menschen („Kindern“) um mich herum, eben: FREUNDSCHAT MIT KINDERN – AMICATION. Keine andere Kultur, Religion, Ethik, Philosophie oder sonstige Position muss nach den eigenen Vorstellungen umgeformt werden. Dies gilt auch Kindern gegenüber und bedeutet die Überwindung des Kerngedankens jeglicher Erziehung: dass aus Kindern Menschen zu machen seien entsprechend den Vorstellungen der jeweiligen Kultur ihrer Eltern. Es wird die Beziehung zum Kind gesetzt an die Stelle einer Erziehung zum Menschen.