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Die psychische Aggression der Erziehung

Bereits vorgeburtlich werden die Menschen zur Selbstverantwortung ausgebildet. Mit Hormonen und biochemischen Möglichkeiten steuern die Embryos ihren Nahrungs- und Sauerstoffbedarf. Und sie sind es, die die Geburt einleiten, nicht die Mutter oder gar der Arzt. Nach etwa neun Monaten der Entwicklung spürt jeder selbst, wann der rechte Zeitpunkt für ihn gekommen ist: das Ungeborene gibt den entscheidenden Hormonausstoß in den Körper der Mutter und löst damit die Wehentätigkeit aus. Jedes Kind kommt als hochwertig ausgebildeter und trainierter Selbstverantworter auf die Welt.

Jetzt bricht die traditionelle Grundeinstellung der Erwachsenen über das Kind herein: »Du bist kein selbstverantwortliches Wesen! Kinder, gar Neugeborene, können das eigene Beste nicht selbst wahrnehmen! Wir sind für dich verantwortlich! Wir wissen besser als du, was für dich gut ist!« Das Neugeborene ruft den Erwachsenen zu: »Ich bin für mich selbst verantwortlich! Das ist jeder Mensch, vom Anfang bis zum Tod! Ich habe es gut gelernt, für mich verantwortlich zu sein, es gehört zu meinem Wesen, zum menschlichen Wesen! Erkennt und achtet es! Unterstützt mich loyal, doch erzieht mich nicht!«

Aber die traditionelle, pädagogische Antwort ist unerbittlich, und sie teilt sich in der psychischen Kommunikation im Tonfall, der Mimik und Gestik mit: »Verantwortlich für die Kinder sind die Erwachsenen! Kinder können das eigene Beste nicht selbst wahrnehmen!«

Selbstverständlich lieben auch pädagogisch orientierte Eltern ihre Kinder. Doch bei aller Liebe – ihre Grundhaltung in der Frage der Selbstverantwortung ist nach amicativer Auffassung für das Kind psychische Aggression. Das Kind erlebt diesen seelischen Angriff auf sein Selbstbild Tag für Tag, denn die Grundhaltung »Wir sind für dich verantwortlich« ist im Gefühl der Erwachsenen verankert und stets präsent. Diese Aggression begleitet das Kind den ersten Tag, den zweiten Tag, den dritten Tag, die erste, zweite, dritte Woche, den ersten Monat, den zweiten, den dritten, das erste, zweite und dritte Jahr – die gesamte Kindheit über, 16, 17, 18 Jahre lang. Ununterbrochen und alternativlos erfährt der junge Mensch von den Erwachsenen ihren grundlegenden Vorbehalt. Er erfährt, dass er, so wie er ist, noch kein vollwertiger Mensch sei, dass er nicht zur Selbstverantwortung befähigt sei, dass er erst ein soziales Wesen werden müsse, dass er dies und das lernen müsse, dass er erzogen werden müsse, so, wie andere meinen, dass es gut für ihn sei. Diese psychische Aggression wird zwischen den Zeilen des täglichen Umgangs über ihn geschüttet und hat Folgen.

Wenn man jemandem etwas abspricht, wovon er aber überzeugt ist und von dem er meint, dass es ihm zukommt, dann erlebt er diese Position als Angriff. Wenn Erwachsene Kindern aufgrund der pädagogischen Tradition absprechen, dass sie selbstverantwortlich sind – sie sich jedoch so fühlen –, dann erleben sie dies als psychische Aggression, als Angriff auf ihr Selbstverständnis. Kinder erleben die pädagogische Nicht-Anerkennungs-Haltung als ein psychisches Gift, dem sie sich ausgeliefert fühlen.

Dieses Gift wirkt langsam aber unaufhaltsam. Es zersetzt das mitgebrachte Selbstverantwortungsgefühl und damit das grundlegende Selbstvertrauen – das Vertrauen darin, dass man selbst Grund aller Dinge ist und sich getragen weiß vom Sinn des Ganzen. Und es zersetzt auch das Vertrauen in die anderen, in die Erwachsenen, in die Sozialität und Gemeinschaft: denn von ihnen kommt ja der Angriff, und ihre loyale Unterstützung in die selbstverantwortlich erspürten und mitgeteilten Wichtigkeiten bleibt ja immer wieder aus, »weil wir besser wissen als du, was für dich gut ist«. Misstrauen zu sich selbst und zur Gemeinschaft baut sich auf. Verborgener oder offener Selbsthass und sozialer Hass bis hin zur Bereitschaft, sich und andere zu töten (Kriegsbereitschaft), sind die Langzeitfolgen der pädagogischen Mentalität.

Und aus Kindern werden nach einer langen Reihe von Jahren voller psychischer Aggression Erwachsene, die voll von großen und kleinen, offenen und verdeckten Minderwertigkeits- und Schuldgefühlen sind, abhängig vom Urteil anderer, mutlos, den eigenen Weg zu gehen, vorbeigeschleust am eigentlichen Leben.